Rituale

Ziemlich genau vor einem Jahr, vier Tage vor Weihnachten, ist der Kindergarten Schützenwiese bis auf die Grundmauern abgebrannt. Mit seinen 300 Jahren war das heimelige Gebäude vor dem Fussballstadion Schützenwiese ein nicht wegzudenkender, optischer Bestandteil des Quartiers und derKindergarten für Generationen. Und dann war das Gebäude über Nacht einfach weg. Mit ihm alles, was darin war: Puppen, Spielsachen, Bücher, Basteleien…

«Tschau, liebe Chindsgi» war eine von vielen Abschiedsbotschaften und Zeichnungen, welche die rund 60 Kinder anlässlich eines Abschiedsrituals an das Absperrgitter geheftet haben. Dann haben alle Anwesenden gemeinsam einige Lieder gesungen.

Kitschig? Keineswegs. Die Schulleitung, die Lehrpersonen, die Eltern und auch die Kinder haben verstanden, wie wichtig es ist rituell und gemeinsam Abschied zu nehmen, bevor etwas Neues beginnen kann. Der in Rekordzeit geplante und aufgestellte, temporäre Ersatzpavillon ist denn auch in kürzester Zeit zum neuen, lebendigen «Kindergarten-Daheim» für alle geworden.

Entwicklungspsychologen haben schon lange festgestellt, wie wichtig Regelmässigkeiten und Rituale für die seelische Sicherheit sind. Der Soziologe Bruno Hildenbrand bringt es auf den Punkt: «Rituale stärken unser Selbst, sie stiften Ordnung und regeln Übergänge. Durch sie findet der Mensch seinen festen Platz in der Welt.»

In der Maurerschule, eine der drei städtischen Sonderschulen, ziehen sich Rituale und Wiederholungen wie ein roter Faden durch den Schulalltag und das Schuljahr. Für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind wiederkehrende Erfahrungen und Rituale eine wichtige Orientierungshilfe. Das Bekannte vermittelt Sicherheit und Stabilität und bildet damit den festen Boden, um einen Entwicklungsschritt weiter zu gehen und Neues zu wagen.

An meinem ersten Arbeitstag als neue Stadträtin wurde ich ebenfalls mit einem Ritual begrüsst: einem selbstgebastelten Willkommensgeschenk. Dieses steht noch immer an meinem Arbeitsplatz und es erinnert mich täglich an diesen freudigen Moment.

Gerade die Wintermonate sind eine Zeit der vielen Bräuche, Rituale und Traditionen: Adventszeit, Weihnachten, Rauhnächte, Silvester, Neujahr, Dreikönigstag… Wir alle können selber entscheiden, welche Traditionen oder Rituale wir hochhalten möchten. Wichtig dabei scheint mir, dass man nebst Wiederkehrendem und Altbekanntem offen bleibt für Wandel und Neues, für das Entdecken, Experimentieren und Staunen.

«Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitergeben des Feuers.»

In diesem Sinne wünsche ich allen frohe Festtage und ein glückliches neues Jahr – mit wertvollen «alten» Erfahrungen und neuen Erkenntnissen.


Herzlich, Martina Blum
Stadträtin, Vorsteherin Departement Schule und Sport

Erschienen in der «Winterthurer Zeitung» am 21. Dezember 2023


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